ATENEY - RUSSIAN INTERNATIONAL EDITION
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Rambler's Top100

Anatolij M. Iwanow
DIE DEUTSCHEN - EIN AUSERWÄHLTES VOLK

   Ich möchte an dieser Stelle zunächst kurz auf meine Theorie der Zyklen zurückkommen, die ich schon in meiner Skizze über Nietzsche und Evola dargelegt habe. [In Kurzfassung erschien diese Theorie in der russischen Zeitschrift „Athenaeum", Nr. 1, Moskau 2001, und bereits zuvor im Manifest der russischen Nationalisten „Das Wort der Nation", Samizdat, 1970.] Die historischen Lebenszyklen der Völker Europas und der Levante - wir betrachten hier nur das Schicksal dieser Völker - dauern etwa 2000 Jahre. Jeder Zyklus teilt sich in vier Viertel von jeweils etwa 500 Jahren und ist mit bestimmten Etappen der Entwicklung, der Blütezeit und des Verfalls verbunden.
   Das erste Viertel des antiken Zyklus (1500-1000 v.d.Ztw.), den man als Vorgänger des unseren betrachten kann, ist die Zeit der ersten labilen Zusammenschlüsse (mykenische Zeit, Trojanischer Krieg), das zweite (1000-500 v.d.Ztw.) ist die Periode der Zersplitterung, das dritte (500 v.d.Ztw.-O) die Zeit der stürmischen politischen Ereignisse (Rivalität zwischen Athen und Sparta, später der Aufstieg Mazedoniens und Roms Sieg über Griechenland) und der Blüte der antiken Kultur, und das letzte Viertel (0-500 n.d.Ztw.) bringt den Antagonismus zweier Großmächte (Rom und das Partherreich, d.h. Persien) und schließlich den Zusammenbruch beider.
   Im Rahmen des gegenwärtigen Zyklus umfaßt das erste Viertel (500-1000) wiederum die Zeit der labilen Zusammenschlüsse (das karolingische Imperium, das Reich von Kiew), das zweite (1000-1500) die Periode der feudalen Zersplitterung, das dritte (1500-2000) den Höhepunkt der politischen und kulturellen Tätigkeit (den Kampf zwischen Frankreich und Deutschland um die europäische Hegemonie, die Gründung des britischen Weltreiches und - am Ende des 20. Jahrhunderts - den Antagonismus zweier Großmächte, der USA und der UdSSR).
   Es scheint, daß es sich dabei um zwei verschiedene Verkörperungen derselben Archetypen handelt. Dasselbe geschieht mit einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten. Man darf vermuten, daß Alexander der Große und Napoleon zwei Verkörperungen derselben „Überpersönlichkeit" sind, an deren Beispiel sich die zweite Gesetzmäßigkeit der Geschichte offenbart, das Gesetz des Ausgleichs: ein Mißerfolg in einem historischen Zyklus wird durch einen Erfolg in einem anderen ausgeglichen und umgekehrt. Die Großen der griechischen Philosophie und Dramaturgie wurden unter anderen Namen in Deutschland und Frankreich wiedergeboren. Es ist jedoch davon abzuraten, sich zu Suchaktionen nach derartigen „Doppelgängern" verführen zu lassen. Dies um so mehr, als diese Beschäftigung leicht zu einer Manie werden kann und die echten Analogien durch die an den Haaren herbeigezogenen kompromittiert werden.
   Der antike Zyklus hatte auch einen Vorgänger: den sumero-semitischen Zyklus (3500-1500 v.d.Ztw.), in dem Lagasch und Umma dieselbe Rolle wie Athen und Sparta spielten und beziehungsweise Akkad Mazedonien, Babylon dem Römischen Reich und Elam Persien entsprachen.
   Die Verhältnisse zwischen den Zyklen gestalten sich ebenfalls nach dem Gesetz des Ausgleichs. Der semitische Zyklus, der in den historischen Hintergrund verdrängt wurde, rächte sich am siegreichen antiken Zyklus - mit Hilfe des Christentums errang er den geistigen Sieg über seinen Feind. Heute erleben wir dieselbe Phase unseres Zyklus wie im vorangehenden Zyklus, als die neue Weltreligion, das Christentum, auftrat. Nach dem Gesetz des Ausgleichs wird die Religion, die zur Zeit an die Tür der Geschichte klopft, eine Revanche der antiken Welt sein.
   Die frühere semitische Revanche hatte sich bekanntlich durch ein Volk und einen Menschen verwirklicht, wobei die Verhältnisse zwischen diesem Volk und diesem Menschen sehr kompliziert waren; dieses Thema ließe sich natürlich noch weiter ausführen. Das jüdische Volk, das an seine Auserwähltheit glaubte, verstand diese völlig falsch und hat bis heute noch nicht begriffen, daß es nur dank jenem Menschen, den es ablehnte und sogar zur Hinrichtung verurteilte, zum auserwählten Volk wurde. Das bedeutete gleichzeitig die Wahl Gottes: Jahwe, welchen bis dahin, wie Anatole France in seinem Roman „Die Revolte der Engel" schrieb, „... nur einige klägliche syrische Stämme kannten, die sich seit langem durch dieselbe Grausamkeit wie er selbst ausgezeichnet hatten und von einer Knechtschaft zur anderen übergingen...", verwandelte sich für Millionen Menschen in ihren einzigen Gott.
   Aber die Juden glaubten, daß eine allmächtige Kraft ihnen helfen würde, jeden Gegner zu überwältigen. Aus diesem Grunde forderten sie zweimal das Römische Reich frech heraus. Bar Kochba, der Führer des zweiten jüdischen Aufstandes, wurde von dem damals berühmten Rabbi Akiba als Messias verkündet, und die Juden waren davon überzeugt, wurden aber enttäuscht. Sie, wie die ganze übrige Welt, wußten noch nicht, daß der echte Messias schon vor 100 Jahren gekommen war. Nur wenige konnten hinter dieses Geheimnis kommen.
   Heute lebt die christliche Welt in der Erwartung der kommenden Parusie ihres Erlösers, aber diese Erwartung ist vergeblich, denn es ist sinnlos, auf etwas zu warten, was schon geschehen ist. Gemäß den christlichen Deutungen hat Vergil in seiner „Bucolica" die Geburt Christi vorausgesagt. Aber das war keine Prophezeiung, sondern eher eine unklare, in heidnische Formen gehüllte Vorahnung. Etwas Ähnliches widerfuhr dem Gründer der Sekte der Adventisten, William Miller. Er sagte die zweite Erscheinung Christi für das Jahr 1844 voraus, aber in diesem Jahr ereignet sich etwas anderes: Friedrich Nietzsche wurde geboren.
   Nietzsche unterzeichnete im Zustand des Wahnsinns als „Dionysos" und als der „Gekreuzigte". Letzteres bedeutete, daß sich Nietzsche selbst als zweite Verkörperung derselben Überpersönlichkeit begriff, deren erste Verkörperung Jesus war. Die Unterzeichnung „Dionysos" hat eine andere Bedeutung: sie weist auf die Tradition hin, auf deren Basis die neue Religion zu begründen ist. Eine solche Basis war für Jesus die alttestamentarische Tradition, die er fortsetzte und erneuerte. Nietzsche wollte nicht den Dionysos-Kult wiederbeleben, hielt aber dessen ungeachtet diese Tradition für die wichtigste. A. Bäumler, beeinflußt von J.J. Bachofen und von dessen verächtlicher Meinung über die „chthonischen Religionen", versuchte vergeblich, die Bedeutung von Dionysos in Nietzsches Lehre abzuwerten; damit beraubte er diese nur der Kraft ihres Inhalts. Nietzsche nannte sich selbst „Dionysos’ Jünger" - ein Jünger, und keine Verkörperung.
   Im Rahmen unseres Zyklus widerfuhr den Deutschen dasselbe, was im vorangehenden den Juden geschehen war. An ihre „Auserwähltheit" glaubend („Gott mit uns"), forderten sie im Laufe des 20. Jahrhunderts zweimal die „neue Weltordnung" heraus, die England und die USA schon seit langem zu errichten begannen, aber in beiden Fällen wurde Deutschland geschlagen. Die Deutschen glaubten an Hitler wie an einen Erlöser. Der chilenische Schriftsteller Miguel Serrano glaubt bis jetzt, daß er ein „Avatar" eines Gottes gewesen sei, und führt eine neue Zeitrechnung von Hitlers Geburt an ein, aber er wiederholt dabei nur den Fehler, den Rabbi Akiba in bezug auf Bar Kochba begangen hatte. Der echte Prophet der neuen Wahrheit wurde in Deutschland vor 100 Jahren (von 1945 aus gerechnet) geboren, und seit 1844 wurden die Deutschen so zum auserwählten Volk, ohne etwas davon zu wissen. Dieses Geheimnis blieb bis jetzt ungelöst, aber es ist nun an der Zeit, die Lösung zu finden.
   „Wir predigen Nietzsche, den Wahnsinnigen". Ob er nur im Zustand des Wahnsinns begriff, wer er war, oder bereits früher? In jedem Fall durfte er nicht von sich selbst zeugen, so wie sich Jesus nicht Christus nannte und es anderen verbot, ihn so zu nennen. [12. Lukas 9,21] Nietzsche sollte wirklich den Verstand verlieren, aber Serrano mißversteht die Ursache dieser Erkrankung. Gerade als Nietzsche seine Bestimmung zu vermuten begann, sank ein Vorhang des Wahnsinns vor ihm herab, damit seine Worte als Worte eines Wahnsinnigen wahrgenommen würden. Der Wahnsinn war für Nietzsche dieselbe verhängnisvolle Unvermeidlichkeit wie die Kreuzigung für Jesus. Es fällt ebenso schwer, an die göttliche Herkunft eines Gekreuzigten zu glauben, wie an die göttliche Mission eines Wahnsinnigen. Darum siegte das Christentum erst im Verlauf von Jahrhunderten. Und Nietzsche starb erst vor hundert Jahren.
   Die verhängnisvolle Unvermeidlichkeit flösste Christus Angst ein, und er flehte zu Gott, um diesem Kelch zu entgehen. Nietzsche leistete Widerstand gegen seine Mission, wie es der Prophet Jonas getan hatte. Er wollte nicht prophezeien, er wollte nicht für einen Propheten gelten. Aber Gott zwang Jonas, sich mit dem zu beschäftigen, wozu er bestimmt war, und Nietzsche begann gegen seinen Willen in prophetischer Sprache zu reden. Aber - und das war sein Verhängnis- er wurde nicht gehört, und wer ihn doch hörte, hat ihn mißverstanden.
   Das deutsche Volk mußte viele Heimsuchungen erleben - das war sein Verhängnis. Aber im Gegensatz zu den Juden des 2. Jahrhunderts wurden die Deutschen nicht zerstreut, und sie verloren ihren Staat nur für einige Jahre. Inzwischen haben sie auch die Spaltung ihres Landes überwunden. Aber die Frage bleibt offen: Mit wem ist das Schicksal grausamer umgesprungen? Die Juden verloren ihre Heimat, aber sie bewahrten ihre geistige Einheit; die Deutschen blieben in ihrem eigenen Staat, sagten sich jedoch als Folge der geistigen Kastration, der sogenannten „Umerziehung", von ihren nationalen Traditionen zugunsten der amerikanischen Chewing-Gum-Zivilisation los. Im Zusammenhang mit diesem Verlust läßt sich Goethe zitieren: „Da wär' es besser nicht geboren. "
   Paul de Lagarde sah die historische Mission der Deutschen in der Begründung einer neuen Religion, aber diese Religion sollte seiner Meinung nach eine originelle, deutsche und von allen fremden Schichten befreite Religion sein. Die deutsche klassische Literatur des 18. Jahrhunderts hielt er für deutsch „in den Personen einzelner ihrer Träger, aber nicht als Literatur", weil sie einerseits kosmopolitisch war, und andererseits nach griechischen und römischen Idealen strebte.
   In diesem Fall irrte sich de Lagarde, weil sein theoretisches Rüstzeug keine Kategorien der Zyklen und des Ausgleichs enthielt. Die Liebe der Größen der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts zum alten Hellas, die ihm nur eine intellektuelle Spielerei der Genies schien, war in Wirklichkeit eine Etappe der oben erwähnten Revanche. Und wenn Friedrich Schiller in seinem berühmten Gedicht „Die Götter Griechenlands" von der Rückkehr „der hellen Welt" des Altertums nur träumte, so war Friedrich Hölderlin davon überzeugt, daß, wenn das Göttliche einst existiert hat, es noch einmal zurückkommen werde, weil es ewig ist.
   Friedrich Hölderlin ist als ein geistiges Urbild Nietzsches besonders bemerkenswert. Beide sind am Ende irrsinnig geworden, wobei Hölderlin bedeutend längere Zeit in der geistigen Finsternis verbracht hat - volle 37 Jahre. [Die Ähnlichkeit ihres Schicksals hat Arthur Drews in seinem Buch „Nietzsches Philosophie" (Heidelberg 1904, S. 80) beleuchtet.]
   Hölderlin hat Dionysos ebenfalls auf eine Stufe mit Christus gestellt und infolgedessen das seelische Gleichgewicht verloren. Pierre Chassard macht dem deutschen Dichter Vorwürfe wegen seines „rücksichtslosen Synkretismus", wegen seiner Vermischung des jüdischen Gottes mit den Göttern der Griechen und Pelasger, [Heidegger, „Jenseits der Dinge.", Verlag A. Thomas, Wesseling 1993], aber diese Kritik geht zu weit. Hölderlin hatte seine Epoche sogar überholt.
   N. J. Berkowskij schreibt in seinem Artikel über Hölderlin in der „Geschichte der deutschen Literatur"[Bd.3, Verlag „Nauka", Moskau 1966]: „Unter allen Dichtern der Welt war er vielleicht der überzeugteste und standhafteste Enthusiast [des Altertums] ... Hellas gab ihm einen Fingerzeig, welche Ordnung und Kultur in Europa wieder festen Fuß fassen können und sollen." Er war „Hellas in seiner symbolischen Bedeutung" ergeben. „Das unterirdische Hellas, das ist Europa mit allen geheimen Möglichkeiten seiner Zukunft." „Hölderlin hat auf seine Weise die antike Mythologie und antiken Götter wiederbelebt", aber unter den olympischen Göttern eine gründliche Säuberung durchgeführt. Es ist bemerkenswert, daß der Protagonist seines Romans „Hyperion" den Namen eines der Titanen trägt, d.h. jener Göttergruppe, die den Olympischen Göttern feind war. [18Walter W. Otto nahm an, daß das Wort „Titanen" für die vorgriechische Bevölkerung einfach ein Synonum für „Götter“ war („Die Götter Griechenlands“, Verlag Gerhard Schulte-Bulmke, Frankfurt/M. 1947, S. 36).]
   Bachofen, Bäumler und Evola verachteten die pelasgischen Götter dieser Gruppe als niedrige, „chthonische" Wesen. Pierre Chassard steht in derselben Tradition.
   Nietzsche erklärte mit Stolz, daß er „...der Erste war, der zum Verständnis des älteren ... hellenischen Instinkts jenes wundervolle Phänomen ernst nahm, das den Namen Dionysos trägt". Allerdings ließ Nietzsche dabei seinem Lehrer Jacob Burckhardt Gerechtigkeit widerfahren, der in seiner „Geschichte der griechischen Kultur" dieser Erscheinung einen Sonderabschnitt style="mso-spacerun: yes"> gewidmet hat. „Ganz anders berührt es uns, wenn wir den Begriff ‚griechisch' prüfen, den Goethe und Winckelmann sich gebildet haben, und ihn unverträglich mit jenem Element finden, aus dem die dionysische Kunst mit ihrem Orgiasmus wächst.", setzt Nietzsche in seiner „Götzendämmerung" fort und folgert, daß Goethe die Griechen nicht verstand.
   Nietzsche behauptet, daß der griechische Geist von Sokrates verdorben wurde. Aber vielleicht geschah etwas Ähnliches auch mit dem deutschen Geist?
   F. W. J. Schelling sagte in seiner Eröffnungsrede an der Berliner Universität am 15. November 1841, daß zur Zeit der nationalen Erniedrigung die Philosophie den Deutschen eine Stütze verliehen habe. Aber er erhob Einspruch gegen die Unterschiebung der logischen Begriffe anstatt der lebendigen Wirklichkeit [ein Seitenhieb gegen Hegel.] Ernst Krieck erzählt in seiner Autobiographie von der Zeit der Stagnation des Kaiserreiches, als die deutsche idealistische Philosophie das einzige war, womit sich die Gefühle der denkenden Jugend Luft machen konnten. Später, zur Zeit des politischen Aufstiegs in Deutschland, überwand er seine idealistische Begeisterung. Heute, wo Deutschland von neuem „böse Zeiten" erlebt, sehen Horst Mahler und seine Freunde vom „Deutschen Kolleg" den Weg zur geistigen Wiedergeburt Deutschlands in der Rückkehr zur deutschen idealistischen Philosophie. Aber vielleicht hockt auch dort, wo sie einen Zufluchtsort zu finden hoffen, ein deutscher Sokrates?
   Ja, er hockt da. Und sein Name ist schon lange bekannt: Immanuel Kant.
   Kant wurde wie Sokrates von Nietzsche negativ beurteilt. Nietzsche hat ihn sogar einmal „einen Chinesen aus Königsberg" genannt. Im Roman des Schriftstellers Andrej Belyj (i.e. Boris Bugajew, 1880-1934) „Petersburg" sieht ein Protagonist das Trugbild eines Turaners (Mongolen) und hört den Satz:
   „Kant war auch ein Turaner."
   Nietzsche hat Kant in seine Liste der „Unmöglichen" eingetragen. Er schrieb, daß er „... es den Deutschen nachträgt, sich über Kant und seine Philosophie der Hinterthüren vergriffen zu haben." „Die Deutschen haben ihre Philosophie nur ausgehalten, vor allem jenen verwachsensten Begriffskrüppel, den es je gegeben hat: den großen Kant." Nieztsche sah in Kant, der im Rahmen der „abschreckendsten Scholastik" das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl und Willen predigte, den Antipoden Goethes. Seiner Meinung nach war die Scheidung der Welt in der Art Kants in eine „wahre" und eine „scheinbare" eine Suggestion der Dekadenz, ein Symptom niedergehenden Lebens.
   Man kann Kant nicht nur für Goethes, sondern auch für Nietzsches Antipoden halten. Wenn es unter den Deutschen einen Menschen gab, der von den Griechen am weitesten entfernt war, so war dies Kant. Eigentlich kann man diesen Kant nicht zu den Deutschen, Griechen, Chinesen oder zu den Menschen überhaupt zählen - er war vielmehr ein philosophierender Computer! Ist es möglich, daß seine Philosophie das deutsche Wesen zum Ausdruck bringt?
   Pierre Chassard erinnert in seinem Buch „Nietzsche. Finalisme et Histoire." [Brüssel, Mengal 1999] daran, daß Kant danach strebte, alle Attacken gegen Religion und Moral zu beenden. Gerade deswegen teilte er die Wirklichkeit in zwei Welten verschiedener Natur und verschiedenen Wertes und entwickelte eine Konzeption der moralischen Essenz der Welt. Der Kantsche kategorische Imperativ, der von der höchsten, „wahren" Welt ausgeht, bedroht, gemäß Nietzsche, alles Lebende; jeder muß seinen eigenen kategorischen Imperativ haben. „Nichts ruiniert tiefer, innerlicher, als jede 'unpersönliche' Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion." „ Was zerstört schneller, als ohne innere Notwendigkeit, ohne eine tief persönliche Wahl, ohne Lust arbeiten, denken, fühlen? als Automat der .Pflicht'? Kant, „jener Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden verstand die Lust als Einwand." [„Der Antichrist"]
   Laut Kant bewegt sich die Geschichte hin zur Errichtung der Weltordnung nach göttlicher Vorsehung. Somit hat der heutige Globalismus seinen Theoretiker, welcher vor 200 Jahren gelebt hatte. Eine Ordnung und eine Moral für alle - kann man sich etwas Abscheulicheres vorstellen? Eine Ordnung, die von Techno- und Bürokraten verwaltet wird? Nietzsche sagte zum Scherz, aber nicht zufällig, daß gerade die kantische Philosophie die höchste Formel des Wesens eines Staatsbeamten darstellt: „Der Staatsbeamte als Ding an sich zum Richter gesetzt über den Staatsbeamten als Erscheinung." Der seelenlose Philosoph paßt am besten zur seelenlosen Bürokratie.
   Eine unüberwindliche Kluft liegt zwischen Kant und de Lagarde, der alle seine Hoffnungen auf die Zukunft mit möglichen Personen und nicht mit dem Staat, diesem „Vize-Gott", verband und es bedauerte, daß das Leben einzelner Menschen bis in die Kleinigkeiten von verschiedenen Behörden reglementiert wird, und daß diese Abhängigkeit nur ständig wachsen wird.
   Nietzsche äußerte seine Meinung über den Staat eindeutig in seinem Hauptwerk „Also sprach Zarathustra" [im Kapitel „Von den neuen Götzen"]. „Staat heißt das kälteste von allen kalten Ungeheuern. Kalt lügt es auch und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: „Ich, der Staat, bin das Volk. " „Lüge ist's ... Wo es noch Volk gibt, da versteht es den Staat nicht und haßt ihn... Jedes Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht... Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen: und was er auch redet, er lügt, und was er auch hat, gestohlen hat er's."
   Nietzsche rief auf, dahin zu sehen, wo der Staat aufhört, denn „... da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist."
   Vergleichen Sie diese Texte mit Mussolinis „Doktrin des Faschismus": „Für einen Faschisten besteht alles im Staat, und nichts Menschliches oder Geistiges existiert und hat einen Wert außerhalb des Staates... Außerhalb des Staates gibt es kein Individuum." Wagt nach diesem Vergleich noch jemand, Nietzsche und de Lagarde als „Ideologen des Faschismus" abzustempeln?
   Ludwig Klages lebte und starb außerhalb des deutschen Staates. Vom Standpunkt des Duce aus existierte er nicht. Aber wer hat besser als Klages Nietzsches Lehre gerade in religiöser Hinsicht entwickelt? Vielleicht die offiziellen Ideologen und Philosophen des Nationalsozialismus? Daß ich nicht lache!
   Und natürlich hat auch Heidegger dies nicht getan. Er versuchte eher zu beweisen, daß er klüger und konsequenter als Nietzsche war, als ihn zu verstehen. Laut Heidegger dachte Nietzsche, daß er „die Metaphysik überwunden hatte", aber in Wirklichkeit geschah nichts dergleichen. „Nietzsches Gegenbewegung gegen die Metaphysik, das war einfach ein Versuch, sie umzustoßen, wobei er sich hoffnungslos in die Metaphysik verwickelte." [„Holzwege". Frankfurt a.M. 1957, S. 200] „Trotz allen Umwälzungen und Umwertungen der Metaphysik bleibt Nietzsche unbeirrt im Rahmen ihrer Traditionen." [ebenda, S. 211] Heidegger bezeichnete Nietzsches Metaphysik als „Metaphysik der Werte" [ ebenda, S. 210] und behauptete, daß „die Metaphysik, die als eine Metaphysik des Willens mit den Kategorien der Werte denke, ... einen Schlag gegen das Sein selbst" versetze, und darum sei „... das Denken mit den Werten der Metaphysik des Willens zur Macht tödlich." [ebenda, S. 242f.]
   Man bezeichnet Heidegger selbst als einen „Mörder der Metaphysik". Aber Pierre Chassard stellt in seiner zitierten Broschüre über Heidegger die Frage, was ist das in Wirklichkeit, dieses Wertvolle „Sein", das Heidegger so tapfer gegen Nietzsches Schläge verteidigt, und er entdeckt in ihm die wesentlichen Züge des Gottes der christlichen Theologie. Außerdem begreift Heidegger das Sein so, wie gewisse Mystiker Gott ersannen. Für Heidegger ist das Sein ein Nichts, wie Gott für Meister Eckhart; seine Ontologie ist eine Lehre vom Nichts (Neantologie): das Sein ist das Nichts und das Nichts ist das Sein. Heideggers Philosophie ist eine Philosophie der Emigration aus der Realität in die Welt Jenseits der Dinge". Pierre Chassard folgert: Heideggers Denken ist eine Erneuerung der monotheistischen Theologie und der mono-ontologischen Metaphysik.
   Jener also, der behauptet hatte, Nietzsche sei in die Metaphysik verwickelt gewesen, versank selbst in diesem Sumpf. „Das Nichts ist das Sein selbst", - das ist Heideggers Formulierung.
   [ebenda, S. 104] Pierre Chassard hat sich das nicht ausgedacht. Heidegger machte sogar im Vergleich zu Schelling, für den es kein leeres, abstraktes Sein ohne Träger gab, einen Schritt zurück.
   Über die gemeinsame Sünde aller deutschen Idealisten von Kant bis Heidegger sprach Nietzsches Zarathustra im Kapitel „Von den Hinterweltlern": „Leiden war's und Unvermögen, das schuf alle Hinterwelten... Müdigkeit, die mit einem Sprunge zum Letzten will, mit einem Todessprunge... die schuf alle Götter und Hinterwelten." „Aber jene Welt ist gut verborgen vor dem Menschen, jene entmenschte, unmenschliche Welt, die ein himmlisches Nichts ist."
   Nietzsche lehrte, den irdischen Kopf nicht im Sand der himmlischen Dinge zu verstecken. Ja, diese Welt ist schrecklich, und man möchte vor ihr fliehen, aber es gibt, leider, keine andere Welt.
   Ich möchte auf Nietzsches Formulierung „alle Götter" hinweisen, was heißt, dass es keine Ausnahmen gibt. Wjatscheslaw Iwanow meinte, es sei „Nietzsches tragische Schuld", daß er selbst „... an den Gott nicht glaubte, den er der Welt entdeckt hatte." [„Das Heimische und das Ökumenische", S. 34] Aber Nietzsche sprach über sich selbst als über einen Jünger des Philosophen Dionysos und nicht als einen Priester oder Propheten des Gottes Dionysos.
   Dionysos war für Nietzsche ein Sinnbild, kein Objekt der Anbetung. Er schrieb selbst, daß er keine höhere Symbolik als die dionysische kenne: „In ihr ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des Lebens religiös empfunden: der Weg selbst zum Leben, die Zeugung als der heilige Weg. " „Erst in den dionysischen Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustandes spricht sich die Grundtatsache des hellenischen Instinkts aus: sein , Wille zum Leben'. Was verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens... das triumphierende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus, das wahre Leben als das Gesamt-Fortleben durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das geschlechtliche Symbol das ehrwürdige Symbol an sich [wie den Anhängern des Shivaismus; der Verf.], der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit. " „Das Jasagen zum Leben, selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen, der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eigenen Unerschöpflichkeit froh werdend, nannte ich dionysisch." [32„Götzen-Dämmerung"]
   Wjatscheslaw Iwanow warf Nietzsche vor, daß er in Dionysos den „leidenden Gott" nicht erkannt habe. Er habe das Entzücken des Orgiasmus gekannt, nicht aber die Klagen und den Jammer des Gottesdienstes, mit dem die weinenden Frauen den leidenden und gestorbenen Gottessohn aus dem Schoß der Erde heraufbeschworen hätten. [Dies ist unzutreffend: Nietzsche kannte den „in Stücke geschnittenen Dionysos", aber sah in diesem Mythus „eine Verheißung des Lebens" im Gegensatz zur christlichen Verneinung des Lebens (Nietzsches Werke. Taschen-Ausgabe. Alfred Kröner-Verlag, Leipzig 1922, Bd. X, S. 219f.).]
   Dionysos war für Nietzsche ein Sinnbild des Überflusses und der Unmäßigkeit der Raserei dank des Zustromes der Lebensenergien. Iwanow hielt diese Konzeption hochmütig für „eng". Laut seiner eigenen Konzeption war Dionysos für die Alten „kein Gott der wilden Hochzeiten und der Kopulation, sondern ein Gott der Toten und des Todesschattens". Angeblich erkannte Nietzsche nur im wahnsinnigen Zustand Dionysos als einen leidenden Gott und begriff die Ähnlichkeit zwischen Dionysos und dem Christentum. [34„Das Heimische und das Ökumenische", S. 30]
   Wir haben schon darüber gesprochen, daß Nietzsche etwas ganz anderes erkannte und Wjatscheslaw Inwanow dies absichtlich unterschlug. Als glänzender Kenner des Altertums wußte er natürlich, daß sich der thrakische Dionysos-Kult mit dem kretischen Zagreus-Kult vermischt hatte, einer von vielen sterbenden und auferstehenden Göttern, zu denen Atheisten, die Jesus für keine historische Persönlichkeit hielten, auch diesen zählten. Der thrakische Dionysos, über den Nietzsche gerade schrieb, hatte ursprünglich nichts mit Zagreus zu tun. Ein Vergleich mit dem Schivaismus schließt zudem den leidenden Dionysos rundweg aus.
   Es gibt genügend Kritiker und Kommentatoren Nietzsches. Karl Jaspers behauptete sogar, daß Nietzsches Philosophie „keine endgültige Wahrheit und keine Leitsätze enthält, die man einfach auf Treu und Glauben annehmen konnte... Nach Nietzsche zu philosophieren, das bedeutet, sich selbst ständig als sein Gegengewicht zu behaupten." Jaspers folgte förmlich dem Vermächtnis, mit dem der erste Teil des „Zarathustra" endet: „Ihr hattet euch noch nicht gesucht, da fandet ihr mich... Nun heiße ich euch mich verlieren und euch finden." Jaspers hat das wiederholt, Heidegger hat das gemacht. Aber man darf Nietzsche nicht immer wörtlich verstehen. Christus sprach zu seinen Jüngern allegorisch, und Nietzsche redete „bucklig mit den Buckligen".
   Nach Christi Tod vergingen 150 Jahre, bevor der christliche Kanon verfaßt wurde. Jüngst wurde Nietzsches 100. Todestag begangen. Die Aufgabe der nächsten Jahrzehnte besteht darin, den Kanon von Nietzsches Lehre zu verfassen, aus der enormen Literatur über Nietzsche jene Deutungen auszulesen, die kanonisch werden sollen.
   Gerd-Klaus Kaltenbrunner schreibt ironisch über „eine Art ,Klages-Kirche', eine sektiererische Gemeinde seiner Jünger, die das Werk des Meisters als Offenbarung und Allheilmittel ansieht." [„Der schwierige Konservatismus". Herford und Berlin: Nicolai 1975, S. 247] Eine Gründung der „Nietzsche-Kirche" wird auch dadurch verhindert werden, daß Nietzsche selbst, obwohl er die Idee der ewigen Wiederkunft als eine Offenbarung und nicht als eine auf der rationalen Basis geschaffene Theorie verstand und, laut Lou von Salome, diese Idee auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen versuchte, hartnäckigen Widerstand gegen die Verwandlung seiner Offenbarung in eine Religion und von ihm selbst in ihren Propheten leistete,.
   Die von Nietzsche dabei verwendeten Argumente sind denen erstaunlich ähnlich, die wir im Buch des berühmten französischen Revolutionärs L. A. Blanqui „L'Eternité   Die deutschen Klassiker haben „die geistigen Deutschen" anerkannt. Fichte schrieb: „Deutsch bist du, wenn du dich selbst hervorbringst, ganz egal, wo dein Körper geboren ist." Und Novalis stellt fest: „Deutsche gibt es überall." Leute mit germanischen Zügen findet man in verschiedenen Ländern, und diese Züge sind „nur hie und da vorzüglich allgemein geworden ". Das Bestreben, ein Deutscher zu sein, ist ein Streben zum Ideal.
   Das auserwählte Volk der Gegenwart und Zukunft, die Deutschen und Nicht-Deutschen, das ist ,Nietzsches Kirche', die noch auf ihren Paulus wartet. Wahrscheinlich wird er auch ein Deutscher sein.
   Allerdings, so behauptete der bereits erwähnte Andrej Belyj in einem seiner Briefe, könne Nietzsche nur auf russischen Boden richtig verstanden werden.

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